Kurzgeschichten

Die Wirtin 

Einer realen Wirtin nachempfunden

Sie strich langsam mit dem Handrücken über die Wölbung ihres Bauches. Noch war nichts zu sehen, aber bald. Sie hatte es ihm gesagt, obwohl sie seine Sprache nicht beherrschte. Er hatte es verstanden und bald würden sie heiraten.

Jetzt war sie in der Beiz und musste ihren Pflichten nachgehen. Als Wirtin der einzigen Dorfbeiz hatte sie immer etwas zu tun. Sie wollte alles richtig machen. Erstes Gebot: Der Kunde war König. Allerdings wusste sie nicht einmal, wie sie die Kunden in der hiesigen Sprache begrüssen sollte. Einfach nur die Hand schütteln kam ihr schäbig vor. Sie wollte ihnen auch Hallo sagen können.

Sie drehte sich zu ihrem Verlobten, der die Zeitung zwischen seinen Händen hoch über seinem Kopf hielt. Er brauchte eine Brille, schon lange, aber er war zu eitel, um sich dies einzugestehen.

„Wie sagt man Bonjour?“

Verstohlen hob er eine Augenbraue hinter der Zeitung, er lächelte milde und sein Goldzahn blitzte hervor.

„Dummer Kerl“, gab er ohne jegliche Veränderung seines Tonfalls zur Antwort.

Sie ging zum Stammtisch, um die zu begrüssen, die jeden Tag Mengen an Geld für Bier und Essen in ihrer Beiz liegen liessen. Freudig und mit einem Lächeln im Gesicht streckte sie ihre Hand aus. Nun konnte sie alles richtig machen. Eifrig schüttelte sie Hand um Hand und sagte jedem mit freundlichem Gesichtsausdruck Bonjour:

„Dummer Kerl. Dummer Kerl. Dummer Kerl.“ Dabei machte sie fast bei jedem Bonjour einen höflichen Knicks. Sie war überfreundlich, das wusste sie. Es schien ihr angebracht, wenn sich die Gäste wirklich wohl fühlen sollten.

Die Herren am Stammtisch schauten sie mit verwirrten Augen und offen stehenden Mündern an. Zuerst schauten sie die Wirtin an, dann schauten sie sich gegenseitig an. Ein grosses Fragezeichen stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Der Wirtin kamen Zweifel auf. Hatte sie es falsch ausgesprochen? Verstand man sie nicht wegen ihres Akzents?

Die Herren am Stammtisch schielten an ihr vorbei und suchten den Augenkontakt zum Wirten. Seine Zeitung zitterte und strahlende Augen blickten langsam über den Rand. Die Herren lachten lauthals. Ein Scherz, ihr Verlobter hatte sich wieder einmal einen Scherz mit ihr erlaubt. Vielleicht war das auch der Grund, warum die Herren immer wieder in die Beiz kamen. Wenigsten konnte man hier lachen.

Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss und sie die Farbe einer grossen runden Tomate annahm. Ein Herr klopfte ihr beschwichtigend auf die Schulter und erklärte, was sie soeben gesagt hatte. Jetzt musste sie auch lachen. Es war ja auch lustig. Beschämend, aber lustig.

 

Nachdem sie ihre erste Tochter geboren hatte, beherrschte sie die Sprache um einiges besser und der Wirt, der nun ihr Mann war, konnte sie nicht mehr so einfach reinlegen. Sie hatte ein Gespür für die Feinheiten der Fremdsprache entwickelt. Dieses Gekrätze von Chs und Ks war eigentlich ganz einfach. Viele Wortarten und Wortgruppen konnte man von einander ableiten. So war das Lächeln mit lachen verwandt und betrunken mit trinken. Wenn man dies erst verstanden hatte und man ein bestimmtes Wort kannte, konnte man leicht auf ein anderes schliessen. Anhaltspunkt, Ableiten, Eselsbrücke.

Er gab ihr einen dicken nassen Kuss auf die Wange, währendem er ihr gemeinsames Kind im Arm wiegte. Er war unrasiert und die Barstoppeln kratzen an ihrem Gesicht.

„Rasiere dich“, sagte sie. Ein gepflegtes Äusseres war ihr wichtig.

„Ich soll mich rasieren?“, fragte er, als ob er den Grund ihrer Bitte nicht wirklich verstand.

„Ja deine Bart ist lang, wie sagt man, wenn die Bart auf die Wange pikst?“, natürlich hatte sie immer noch einen Akzent und Deklinieren war schwierig.

„Du meinst, wenn die Haare so lang sind, dass sie ganz hart sind und dich piksen?“, fragte er.

„Ja, ja, das!“, sagte sie freudig; er hat sie verstanden.

Er hatte seinen steinernen Gesichtsausdruck perfektioniert. Sie würde nicht merken, wenn er sie anlügen würde. Keine Augenbraue, die hoch ging, kein Mundwinkel, der zuckte, kein Goldzahn, der beim Lächeln hervorblitzte.

„Harter Picker[1].“, meinte er ganz nüchtern.

Das hörte sich plausibel an. Die Bartstoppeln waren hart und sie piksten. Der harte Picker pikste. Plausibel.

Die Beiz war voll. Die Herren sassen am Stammtisch.

Die Beiz lief gut und sie unterhielt sich gerne mit ihren Gästen und die Gäste schätzten ihre natürliche und unkomplizierte Art.

Ein Herr war unrasiert und sie wollte ihr neu erlerntes Wissen anwenden. Ausserdem wollte sie den unrasierten Herrn necken, denn so ungepflegt wie er aussah, würde er nie eine Frau abbekommen. Frauen achteten schliesslich auf ein gepflegtes Äusseres.

Sie setzte sich neben ihn und sagte:

„So wie du aussiehst, kriegst du nie eine gute Frau.“

Er nahm einen Schluck des kühlen goldfarbigen Biers und fragte: „Warum, meine Liebe?“

„Na, du hast einen harten Picker.“ Sie strich ihm über die Wange, um das Gesagte mit einer Geste zu verdeutlichen. Er verschluckte sich am Bier und hustete. Das Bier floss ihm beinahe durch die Nase. Dann kam das Gelächter. Lautes Gelächter. Die ganze Beiz lachte. Was hatte sie gesagt? Beschwichtigend legte der Herr seine Hand auf ihre Schulter. Nach dem er wieder genügend Luft bekommen und sich erholte hatte, erklärte er ihr, was sie soeben gesagt hatte. Nun musste sie auch lachen. Es war ja auch lustig. Beschämend, aber lustig. Wenigstens bot sie gute Unterhaltung. Auch das gehörte zu einer guten Wirtin.


[1] Senslerdeutsch „hörta Pygger“ = harter Penis.